Freitag, 13. Mai 2005
MYTHOS TRANSSIB!
Ein unbeschreibliches Erlebnis, ein fantastisches Gefuehl, die Erfuellung eines Traumes - endlich in Irkutsk angekommen und den Zug verlassen koennen. Auch wenn ich an Zuege und Zugfahren in Russland schon gewoehnt war, musste ich lernen, dass dreieinhalb Tage im Liegewagen dritter Klasse, lustigerweise auf russisch “platzkart” heissend, wahrlich keine romantische Butterfahrt sind, sondern anstrengend, sehr anstrengend (allenfalls noch mit einer Busreise nach Spanien vergleichbar!). Die Enge, der Laerm, die ungezwungene Athmosphaere haben mich irgendwie an Ferienlager oder Klassenfahrten erinnert. Dafuer sorgten auch die zwei “Provodnizas”, was so viel wie “Zugbegleiterinnen” heisst, aber nur ungenuegend Vorstellung von deren eigentlichen Wirken verschafft. Diese Frauen sind naemlich ausserdem Schaffner, Putzfrau und Waggonsheriff in einer Person. Besonders die letzte Funktion birgt viel Verantwortung in sich, da es natuerlich immer Leute gibt, die die Regeln nicht beachten: sei es im Waggon nicht zu rauchen, sei es bei kurzem Halt im Zug zu bleiben, sei es die Nachtruhe einzuhalten (letzteres nicht immer ganz einfach, die “Nacht” beginnt naemlich um 23.00 Uhr Moskauer Zeit, was nach einigen Tagen Fahrt und einige Zeitzonen weiter auch mal 19.00 Uhr sein kann). Trotz aller Wachsamkeit konnte nicht verhindert werden, dass nach einem Tag in den Klos und im Raucherabteil die Scheiben zu Bruch gingen, was endlich ein wenig frische Luft brachte. Ernsthaft im Verdacht hatte man ein paar immerstramme Halodris, die gerade aus der Armee entlassen worden und auf dem Heimweg waren. Fortan standen sie unter Sonderbewachung - und die Naechte waren um einiges ertraeglicher.

Ueber die Lage, in der wir uns im Zug befanden, aber auch ueber die weltpolitische Lage allgemein, unterhielt ich mich mit Mark. Die uebrigen Reisenden, besagte Rekruten, chinesische Wanderarbeiter, allerlei kleinkriminelles Gesocks, aber auch normale Menschen (relativ gesehen) erwiesen sich als unfaehig fuer zwanglose, ablenkende Konversation (sprachen kein Deutsch). Mark sprach deutsch, das heisst zunaechst sprach er mit seiner russischen Freundin irgendeine andere, komische Sprache, die ich fuer finnisch hielt, da mir Mark (den Namen wusste ich noch nicht) ein Schwede zu sein schien. Im Nachhinein wohl nicht ganz logisch... Der Irrtum klaerte sich jedoch bald. Die merkwuerdige Sprache war Japanisch und seine Freundin hatte er in Japan kennengelernt. Eigentlich jedoch ist Mark Franzose, aber seine Mutter Deutsche, (daher die Sprachkenntnis) und befand sich auf dem Weg nach Chabarovsk, um dort irgendwelchen Geschaeften nachzugehen. Bis dahin haderten wir jedoch gemeinsam in den naechsten Tagen mit unserem Schicksal im Zug. Mark ein wenig mehr, da er zwar sein bisheriges Leben nach eigenem Bekunden kaum in Europa, geschweige denn Frankreich verbracht hatte, aber in Russland zum ersten Mal war - und daher mehr als verstaendlich!

Wenn man sich gerade nicht unterhielt, war Schlafen die beste Moeglichkeit der Tristesse zu entfliehen, wenngleich nicht sonderlich erholsam. Vielleicht dachten die Herren Zwangsarbeiter gerade an Flucht - die Schienen jedenfalls hatten sie nicht in gerader Flucht verlegt. Der Waggon ruettelte also bestaendig hin und her und hin und.. so weiter, einige Tausend Kilometer etwa. Tagsueber schaute ich mit zunehmender Fahrtdauer nur noch gelegentlich aus dem Fenster. Erstens weil sich die Landschaft ob der dreckigen Scheiben in einem malerischen Grau praesentierte, was die Stimmung nicht gerade hob. Zweitens: da sich ja doch nichts aenderte. Die vielen Birken waren wohl schuld daran, dass ich irgendwann dachte am Marzahner Waeldchen vorbeizufahren und gleich Raoull-Wallenberg-Strasse aussteigen zu muessen. (Tatsaechlich kam dann Krasnojarsk oder so.) Naja, so ganz klar im Kopf war ich wohl nicht mehr. Vielleicht lag es auch an der schrecklichen russischen Popmusik, die staendig aus den Bordlautsprechern droehnte.

Die Halte an groesseren Bahnhoefen tags sorgten fuer einige Minuten der frischen Luft und Besinnung. Und schnell besinnen musste man sich, wollte man sich von den am Bahnsteig wartenden Haendlern, meist Babuschkas, mit neuem Proviant versorgen, ohne sich selbst uebers Ohr zu hauen oder gehauen zu werden. Viel Zeit hatte man jedenfalls nicht und ringsum wurde man von den anderen Reisenden bedraengt. Deshalb hielt ich mich mit dem Kaufen sehr zurueck und ernaehrte mich stattdessen von den mitgebrachten Dingen: im Wesentlichen Tee, Wasser, Keksen, Brot und - Lapscha. Das ist das russische Wort fuer Nudelsuppe und die schmeckt so, wie sie heisst. Trotzdem waren die Plastikschalen mit den drei mal fuenf mal zehn Zentimeter grossen, gepressten Trockennudelhaufen, auf die man die geheimnisvollen Extrakte der zwei beigefuegten Tuetchen und heisses Wasser gibt, im Zug allgegenwaertig- oder vielleicht besser: allwiderwaertig.

Das Schoenste war, dass die Zugbegleiterinnen zu keinem Zeitpunkt verzagten. Nachdem sich die eine nachts mit einem Passagier aus einem anderen Waggon rumaergern musste, der ihr weismachen wollte, mit den besagten Rekruten noch “Tee trinken” zu wollen, in beiden Haenden aber 2-Liter-Plastikbierflaschen hielt, witzelte sie beim morgendlichen Wischen des Fussbodens, was denn der Unterschied zwischen einem Bankraeuber und einer Putzfrau waere: der Bankraeuber sagt “Haende hoch!”, die Putzfrau “Beine hoch!” Ich habe mir fast eingemacht vor Lachen. Wer das nicht verstehen kann, sollte mal zwei Tage Zug fahren mit der Aussicht auf zwei weitere!

In diesem Sinne - nicht verzagen!

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