Donnerstag, 2. Juni 2005
Kam ein Vogel geflogen
Und was für einer! Zehn Meter Flügelspannweite, mindestens! Kaiseradler nennt sich dieser Blauwal von einem Vogel. Falls jetzt jemand zu Grau’s Naturenzyklopädie greifen will - kann auch anders heißen. Und vielleicht waren es auch nur drei Meter Spannweite, das ließ sich aus der Entfernung schwer schätzen. Auf jeden Fall kreiste da ein Adler vor unseren Augen majestätisch einige Runden. Auch wenn es nur kurz war, bis er aus dem Blickfeld entschwand - für mich wars ein erhebender Augenblick. Mein erster Adler in Freiheit. Das war letzte Woche auf Olchon, der größten Insel auf dem Baikal, ein wahrhaftiges Naturparadies noch dazu. Bevor ich jedoch ins Schwärmen komme, will ich noch schnell berichten, was seit dem letzten Eintrag passiert ist, da ich erst neulich zu strenger Chronologie ermahnt wurde.

Das letzte, wovon ich berichtet hatte, waren wohl die Jubiläumsfeiern anlässlich des Jahrestags des Sieges über uns deutsches Faschistenpack. Seither ist selbstredend einiges passiert, da kann ich natürlich nicht alles erzählen. Sehr spannend war aber zum Beispiel das Angarsker Jazzfestival, das komischerweise in Irkutsk stattfindet (Angarsk ist Nachbarstadt). Sind zwar nur käseweiße Russen aufgetreten, aber viel besser kann es in New Orleans trotzdem kaum sein. Großartig waren vor allem drei Jungs, die zwar wie eine Schulband aussahen, aber den an sich biederen Veranstaltungsort, die staatliche Philharmonie, mächtig zum Kochen brachten mit ihrer Version des Beatles-Klassikers „Blackbird“. Okay, war irgendwie kein Jazz, aber egal!

Tja, was noch... Das Wetter ist Wahnsinn. Zwei, drei Tage Regen bis jetzt vielleicht, sonst nur Sonnenschein. Ungelogen! Die Mädels haben jetzt schon kaum noch was an, man darf auf den Sommer gespannt sein. Apropos, Mädels. Mit den bereits erwähnten polnischen Hilfsarbeiterinnen gabs noch einige feuchtfröhliche Abende. Einmal waren auch ganz krude Gesellen bei, die sich selbst Anarchisten nennen. Die hatten Peperoni-Wodka mitgebracht („Perzovka“). Ich weiß nicht, ob es sowas in Deutschland gibt, bring es vorsichtshalber mal mit. Schmeckt einfach hammer. Was gibts sonst zu Irkutsk zu sagen? Abgesehen von den Sachen, die man bei Google rauskriegt zum Beispiel, dass hier haufenweise Autos aus Japan rumfahren, also mit Lenkrad rechts. Zukünftig soll der Umbau Vorschrift sein, vorgeblich wegen der Verkehrsgefährung, tatsächlich natürlich um die einheimische Autoindustrie zu schützen. Naja, wen kümmern in Russland Gesetze... Eine andere Besonderheit: als wahrscheinlich einzige Stadt dieser Größenordnung auf der Welt gibt es hier weder McDonalds noch Burger King. Und die Apotheken haben rund um die Uhr geöffnet, nachts gibts außerdem sieben Prozent Rabatt!

Wie ihr seht, ne dufte Stadt und alles in allem hatte ich mich auch bereits gut eingelebt gehabt. Ist eben Russland und das war mir ja schon vom letzten Jahr her vertraut. Trotzdem hatte bis vor Kurzem irgendwas gefehlt gehabt. Unter Sibirien stellt man sich ja anderes vor als Stadtleben. Deshalb nutzte ich letzte Woche die Chance mich einer deutschen Reisegruppe anzuschließen, die auf besagte Insel Olchon fuhren. Allesamt ältere Semester, aber prima Leute. Die Bekanntschaft ergab sich dadurch, dass ihr Reiseveranstalter der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland ist, die ein Treffen mit der Baikalwelle arrangierten. Zwei Tage lang durfte ich es genießen endlich mal wieder deutsch zu reden. Und voll den Touristen zu spielen. Wir wohnten auf einer Art Gutshof mit echt sibirischen Holzhäuschen, echt russischer Dampfsauna und echt lecker Küche. Abends gabs russische und burjatische Folklore (garantiert unecht), zu der natürlich das allbekannte Wässerchen reichlich floss. Verkatert gings am nächsten Tag auf abenteuerlichen Buckelpisten auf Exkursion ins Hinterland. Hier gibt es einfach alles geboeten, von Taiga über Blumenwiesen bis Steppe und Wanderdünen, und immer wieder: der Baikal. Eigentlich kein See, eher ein Meer. Und irgendwann, als alle schon müde waren, eben auch der Adler. Sergei, unser Fahrer, meinte, dass wir echtes Glück hätten. Auch er als Insulaner habe erst ein paar Mal einen Adler gesehen.

Mich hat das Ganze wenig gekostet, genau genommen gar nichts. Nikita, dem das alles gehört, hatte mich eingeladen und bot mir zudem an dort untentgeltlich zu wohnen und dafür gelegentlich deutsche Touristen zu betreuen, den Kindern im Ort deutsch beizubringen und ähnliches. Auf mein Zögern sicherte er gleich zu, dass das ja nicht in Arbeit ausarten müsste. Verlockendes Angebot also. Einziger Nachteil eigentlich: es gibt kein Telefon und Strom nur abends drei Stunden. Aber ich glaube, ich mache es trotzdem. Falls von mir also lange nichts zu vernehmen ist, wisst ihr Bescheid...

Soweit zur Zukunft. Weil’s bis dahin noch ne Gegenwart gibt (die tatsächlich auch mal langweilig werden kann), kommt es vor, dass ich allerlei Kuriositäten mitnehme, zu denen einem in der Heimat ja keine Zeit bleibt. Gestern zum Beispiel: Konzert der hiesigen Musikschule. Fand statt in einer ehemaligen Kirche, die seinerzeit von den gottlosen Sowjets zu einem Konzertsaal umfunktioniert worden war und als solcher bis heute dient. Der Eintritt war frei - hätte auch keinen gezahlt, erinnere mich ja noch halbwegs an Konzerte der Marzahner Musikschule, bei denen ich seinerzeit mitgequietscht hatte. Allerdings, hier gabs gar kein Gequietsche. Bis auf einen herzallerliebsten Chorgesang zu Beginn erklang nur der Konzertflügel, der einige Akteure sogar an Höhe überragte. Bis auf die schönen weißen Schleifchen, mit denen die Zöpfchen der Nataschas und Maschas gebunden waren, war es aber ansonsten wie ich es kenne: alle eilen mit sauertöpfischen Mienen auf die Bühne und flüchten danach, kaum den Aushall abwartend, vor dem Applaus zu den stolzen Eltern. Wie üblich der Großteil des Publikums. Dabei war Flucht gar nicht nötig, haben alle ganz prima gespielt. Das wäre dann übrigens auch noch ein Unterschied zu unseren Konzerten damals.

Ach ja, damals... jetzt ist mir ganz wehmütig zumute. Muss aufhören. Mehr fällt mir sowieso gerade nicht ein. So verabschiede ich mich denn für heute und wenns vielleicht nicht so doll war - einen Haufen Arbeit macht die Schreiberei trotzdem. Für einige Grußadressen, gerne auch geheuchelt, sollte es also reichen. Das gilt auch für den fußlahmen Tanzbären!

Mit sibirischen Grüßen
Iwan

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